[Rezension],  Slidebar

MEINE DUNKLE VANESSA von Kate Elizabeth Russell

Waschzettel

Originaltitel: My dark Vanessa
Autorin: Kate Elizabeth Russell
Verlag: Harper Collins Publishing USA
ET: 10. März 2020

Dt. Titel: Meine dunkle Vanessa
Übersetzerin: Ulrike Thiesmeyer
Verlag: C. Bertelsmann
ET: 1. Juli 2020
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I would like to share with my readers that My Dark Vanessa, which I’ve been working on for nearly 20 years, was inspired by my own experiences as a teenager. I have previously discussed the relationships I’ve had with older men and how those relationships informed the writing of My Dark Vanessa. But I do not believe that we should compel victims to share the details of their personal trauma with the public. The decision whether or not to come forward should always be a personal choice. I have been afraid that opening up further about my past would invite inquiry that could be retraumatizing, and my publisher tried to protect my boundaries by including a reminder to readers that the novel is fiction.

Kate Elizabeth Russell (http://kateelizabethrussell.com/note-to-readers)

Bewusst stelle ich alldem, was ich selbst zu sagen habe, dieses Zitat der Autorin Kate Elizabeth Russell voran. Weil mich dessen Existenz wütend macht, traurig macht und für mich einfach für so vieles steht, was der Roman bearbeitet. Der Grund für dieses Zitat sind die Anschuldigungen einer anderen Autorin, einer anderen Betroffenen, die zum Erscheinen von My dark Vanessa den Vorwurf eines (laut LeserInnen beider Werke fälschliches) Plagiats verkündet. Die Anschuldigungen und mediale Bedrängnis scheinen erst aufzuhören, als Russell ihre eigene Leidensgeschichte preisgibt. Etwas, das sie nie wollte. Etwas, das auch ihre Protagonistin immer so sehr gefürchtet hat. Allein dieser Umstand löst so viele Gefühle in mir aus. 

Ich weiß gar nicht so recht wo ich anfangen soll, also das wichtigste zuerst: Dieses Buch ist in vielerlei Hinsicht sehr gut. Mit jeder weiteren Seite spürte ich die Tatsache, dass die Autorin wirklich mehrere Jahre in dieses Werk gesteckt hat und meiner Meinung nach hat sich das mehr als gelohnt. Russell beleuchtet in ihrem Buch Meine dunkle Vanessa fast schon nebenbei so viele wichtige Details im Umgang mit den Themen Sex, Missbrauch, Machtverhältnisse, Popkultur und Menschen ganz generell. Das erschreckendste bei der Lektüre war für mich, dass es sich so einfach lesen ließ. Der Schreibstil von Russel ist (in der deutschen Übersetzung) derart flüssig zu lesen, dass es geradezu im Kontrast zu seinem schweren Inhalt steht. Es entsteht Spannung, wie bei einem guten Thriller, was sich richtig und falsch zugleich anfühlt. Denn die Geschichte IST wie ein schockierender Thriller. Und genau das lässt es sich wiederum so so falsch anfühlen.

Im Laufe des Lesens habe ich mir sehr viele Notizen am Seitenrand gemacht und nochmal mehr Textpassagen markiert. Als ich anfing mich mit dieser Rezension zu beschäftigen war schnell klar, dass es nicht ganz spoilerfrei bleiben kann. Ich möchte auf einige Zitate eingehen, möchte gewisse Punkte einfach offen in den Raum stellen, um mein Leseerlebnis klarer zu benennen. Es wird sich streckenweise womöglich mehr wie ein Artikel, denn eine Rezension lesen. Gleichzeitig möchte ich bereits vorab erwähnen, dass mein Beitrag nur einen Bruchteil der Geschichte und noch weniger von der grausamen Wirklichkeit ansprechen oder darlegen kann.

Ab hier folgt eine Spoilerwarnung für den Inhalt von Meine dunkle Vanessa. Außerdem gilt eine Triggerwahrnung für die Themen (Macht-)Missbrauch und Vergewaltigung.


MeToo-Debatte und die damit einhergehende „Hysterie“

Ich kann gar nicht sagen, wie sehr ich dieses Wort zu verachten gelernt habe: „Hysterie“. Im Normalfall im Zusammenhang mit einer weiblichen Person, die sich über etwas aufregt, verwendet, um deren Argumente auszuhebeln (wow, so schlagfertig!). Seit Jahrzehnten, Jahrhunderten, wird dieses schreckliche Wort gegen uns verwendet. Auch in diesem Roman spielt die angebliche Hysterie von Frauen eine wichtige Rolle. Denn die Protagonistin selbst nutzt diese Worte, um die Flut an aufkommenden Beschuldigungen sexueller Missbräuche im Rahmen der MeToo-Debatte als „Mitläufer“ abzuwiegeln. Bei ihr passiert es aus Angst vor der eigenen Geschichte, es sind mit der Zeit eingetrichterte Worte durch ihren Lehrer Strane. Doch viel zu viele reale Personen stehen hinter derlei Aussagen. Es wirkt geradezu als würde Russell sich bei diesen Passagen direkt auf die Wirklichkeit beziehen, wenn sie ihre Figuren davon berichten lässt, welche Sichtweisen es gibt. Gleichzeitig bleibt sie objektiv als Autorin; sie baut meinem Gefühl nach die unterschiedlichen Meinungen ein, um zum eigenständigen Nachdenken der LeserInnen anzuregen. 

Schweigen ist keine Zustimmung!

Immer wieder beschreibt die Protagonistin, wie sie während seiner sexuellen Handlungen ihren eigenen Körper verlässt. Sich einfach in ein anderes Zimmer bewegt, belangloseren Gedanken folgt. Strane fragt Vanessa anfangs noch nach ihrer Zustimmung. Sie schweigt, statt zu bejahen. Schweigen ist aber keine Zustimmung. Es kann die lähmende Angst sein, dem Gegenüber auch nur zu zeigen, dass man überhaupt am Leben ist. Schockstarre. Oder die momentane Ungewissheit über die eigenen Gedanken, weil es zu schnell geht. Oder so vieles mehr. Es braucht keine Begründung für das Schweigen. Es ist aber keinesfalls einfach ein ‚Ja‘.

 „Ich frage mich, ob das Flirten ist, aber das kann nicht sein. Flirten soll Spaß machen, und das hier ist zu heftig, um Spaß zu machen.“

– Meine dunkle Vanessa, S. 52

Immer wieder lässt Vanessa alles einfach geschehen, unfähig sich zu wehren. Anfangs macht sie sich noch Gedanken zu den Tätigkeiten, die mit ihr angestellt werden, findet es eklig ihm einen Runterzuholen (S. 127). Beim ersten gemeinsamen Sex weint sie, ihn stört es nicht („‚Du machst das prima‘, sagt er. ‚[…] Es ist okay, wenn’s wehtut.‘ “ – S.128). Diese drei bis vier Seiten auf denen Vanessa als 15-jährige ihr erstes Mal erlebt sind hart zu lesen. Sehr hart. Als LeserIn leidet man aktiv mit der Protagonistin mit, es macht sich ein unbändiger Hass auf ihren Vergewaltiger breit. Ich hätte das Buch, stellvertretend für ihn, am liebsten gegen die Wand geklatscht. 

Magisches Datum

Auch die magische Grenze des „legalen Alters“ wird im Laufe der Geschichte immer wieder in den Fokus gerückt. Im Laufe des Buches fragt sich die Protagonistin, wieso eine staatlich festgelegte Grenze darüber entschieden soll, wen sie lieben darf. Ganz generell hat dieses Hinterfragen dahingehend eine Berechtigung, dass dieses Alter von Land zu Land unterschiedlich ausfallen kann. Was sind die Maßstäbe, wie kommen einzelne Länder auf das ausgewiesene Schutzalter? Ab wann ist welcher Altersunterschied (un)problematisch? Und aus welchen Gründen? Auch hier wirft Russell gegen Ende einen passenden Impuls ein: Vanessa lernt in ihrem College einen Professor kennen, dem sie zumindest freundschaftlich näher kommt. Sie erfährt, dass besagter Professor seine 10 Jahre jüngere ehemalige Studentin geheiratet hat. Vanessa fragt sich verzweifelt, worin der Unterschied zwischen den beiden Situationen, sprich den jeweiligen Altersunterschieden und Machtverhältnis liegt. Doch im Grunde ist es klar ersichtlich: nicht der Status als Lehrer/Professor per se ist das problematische Machtverhältnis, sondern das explizite Ausnutzen und Manipulieren durch Strane, wofür Vanessa insbesondere (aber nicht nur) durch ihr junges Alter anfälliger ist. Meiner Meinung nach ist das Schutzalter wichtig; doch was hilft es Betroffenen, wenn sie nicht die Chance des Aufzeigens erhalten? Wenn ihnen anschließend gar nicht erst geglaubt wird?

Machtverhältnis

In diesem Roman steht immer wieder die Frage im Raum, wer eigentlich die Macht über den anderen inne hat. Während Stranes Macht recht klar zu sein scheint, zeigt sich erst mit der Zeit immer mehr, woraus Vanessas (vermeintliche?) Macht über Strane besteht. Russell erschafft in Meine dunkle Vanessa derart intensive Figuren, dass dieses knifflige Machtverhältnis mit jeder weiteren Seite anschaulich vor der LeserIn ausgebreitet wird. Sie zeigt mit ihrer vielschichtigen Erzählung, dass es eben nicht immer so leicht ist mit dem Machtverhältnis zwischen zwei Personen. Besonders dann, wenn die eine Macht, das Machtgefühl der anderen Person nachträglich beeinträchtigt. So auch in diesem Fall: Vanessa nährt sich jahrelang von dem Gefühl der Macht, die sie über Strane inne hat. Doch wenn es zu dem Punkt kommt, dass sie diese Macht tatsächlich nutzen könnte, steht Strane vor ihr und unterbindet eben diese Macht mit seiner eigenen eindringlichen Macht. Somit stellt sich durchaus die Frage, inwiefern Vanessa als Figur tatsächlich diese gedachte Macht inne hat.

 

Es muss eine Liebesgeschichte sein.

„Ich kann nicht die eine Sache verlieren, die mir jetzt schon so lange Halt gibt. Verstehen Sie? […] Es muss eine Liebesgeschichte sein, darauf kann ich nicht verzichten. Verstehen Sie? Das ist ganz, ganz wichtig für mich.“ „Ich weiß“, sagt sie. „Denn wenn es keine Liebesgeschichte ist, was ist es dann?“

Meine dunkle Vanessa, S. 384

Wie sehr ein körperlicher Missbrauch, immer auch ein psychischer Missbrauch darstellt, zeigt Meine dunkle Vanessa direkt und unbeschönigt. Durch die gewählte Ich-Perspektive ihrer Protagonistin schafft Russell es, die innere Zerrissenheit, die manipulierten Gedanken und die Sehnsucht danach, dass es einfach nicht falsch gewesen sein darf, greifbar zu machen. Auf eine intensive Art und Weise zeigt sie die Angst auf, als Missbrauchsopfer das Erlebte wirklich wahrzuhaben und als das Einzustufen was es ist: ein Missbrauch. Es ist wie ein erneuter Kontrollverlust. Wir wollen uns selbst die Kleinigkeiten, um die es auch in Meine dunkle Vanessa geht, oft nicht eingestehen. Eine dazu passende eigene Erfahrungen von mir habe ich übrigens bereits im Rahmen des Buches „Du wolltest es doch“ beschrieben. Selbst heute versetzt es mir noch einen Stich zu lesen, wie ich diese Übergriffigkeit offen im Internet anspreche, denn „eigentlich ist damals doch gar nichts passiert“.

Und dann gibt es da noch die Angst „mit den Vorwürfen“ an die Öffentlichkeit zu gehen. Die Angst davor, dass die eigene traumatisierende Geschichte für „ein paar Klicks“ ausgeschlachtet wird und man selbst letzten Endes nur noch mit diesem einen schrecklichen Teil des eigenen Lebens in Verbindung gebracht wird. Dass der Missbrauch zu dem Einzigen wird, was einen ausmacht. 

Besonders gut fand ich zum Schluss des Buches die Sitzungen mit der Therapeutin, in denen Vanessa es letzten Endes scheinbar doch schafft, auf ihre eigene Art mit den Erlebnissen klarzukommen. Es fühlt sich an, als könnte sie endlich das all die Jahre verschlossene, stellenweise undichte, Ventil nach Stranes Tod – und somit außerhalb seiner Reichweite – endlich öffnen und all ihren Gefühlen freien Lauf lassen. So scheint Vanessa wenigstens am Ende nach und nach einen inneren Frieden zu erhalten, den sie sich nach all den Jahren der Abhängigkeit mehr als verdient hat.

Literatur, Filme und Lieder

Im Laufe des Romans werden eine Vielzahl an Büchern zitiert oder erwähnt, Filmszenen beschrieben oder Bilder daraus verwendet, bekannte Personen der Realität in Kontext zum Thema „sexy junge Mädels“ gesetzt oder aus Liedern fragliche Strophen zitiert. Nach meiner Lektüre fand ich auf der Autorinnenseite von Kate Elizabeth Russell eine Sammlung an Literatur, die sie im Zuge ihrer Recherchen für das Buch gelesen hat. Außerdem gibt es auf Spotify eine Playlist mit erwähnten und weiteren thematisch passenden Liedern zu Meine dunkle Vanessa. Ich denke, beides ist einen näheren Blick wert.

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